"Ich wollte kein Zetteli-Doktor sein"

„Die grosse Weltreise ist nicht geplant“, obwohl ihn das die Patienten immer wieder fragen würden. Hausarzt Hans Schärer schliesst Ende Juni seine Praxis in Aarberg.
Morgen tritt der Aarberger Arzt Hans Schärer vorzeitig in den Ruhestand. Für seine Praxis hat er keinen Nachfolger gefunden. Gründe dafür gibt es mehrere.
Es war ein Inserat, das man im Amtsanzeiger selten sieht: Die Patienten von Hans Schärer wurden darin aufgefordert, „ihre Krankengeschichte persönlich gegen Unterschrift“ bis Ende Juni in der Praxis abzuholen. Betroffen von der Praxisschliessung sind „mehrere hundert Patienten“, welche nun zu anderen Aerzten in Aarberg oder den umliegenden Gemeinden wechseln müssten, wie Hans Schärer nachdenklich feststellt. Bei seinen Kollegen bestünden nun lange Wartelisten. Trotz jahrelanger Suche fand Schärer keinen Nachfolger für seine Praxis an der Murtenstrasse 11 in Aarberg. Schärer: „Damals, als ich die Praxis von Doktor Barraud übernehmen konnte, gab es 42 Bewerber, welche das Gleiche im Sinn hatten“. Jetzt, 27 Jahre später, fand sich kein Einziger mehr, welcher diesen Schritt wagen wollte. Obwohl: „Dieser Nachfolger wäre vom ersten Tag an ein gemachter Mann“ ist Schärer überzeugt. Sein Wartezimmer war die meiste Zeit voll mit Patienten.
Auch jetzt noch, wenige Tage bevor Hans Schärer seinen Kittel an den Nagel hängen oder ihn zumindest nicht mehr so oft anziehen wird. Als 60-jähriger wolle er seine Arbeitszeit stark reduzieren. Das entspreche seinem Lebensentwurf, in welchem vorgesehen sei, die übermässige Beanspruchung aus den vergangenen drei Jahrzehnten zu kompensieren, stellt Schärer zufrieden fest. Er werde allenfalls „noch Notfalldienste beim HANS“ sowie das eine oder andere Mandat, beispielsweise in einem Alters- und Pflegeheim übernehmen. Mit „HANS“ ist übrigens der „Hausarzt-Notfall Seeland“ gemeint, welcher in den Räumlichkeiten des Spitals Aarberg untergebracht ist.
Tarife über Jahrzehnte eingefroren
Dass es überhaupt so weit kam und er keinen Nachfolger finden konnte, dafür trage nicht zuletzt die schweizerische Gesundheitspolitik der letzten Jahre Schuld, ist Schärer überzeugt. Es gehe doch nicht an, dass für zehn oder zwanzig Jahre Tarife eingefroren oder gesenkt würden. Dadurch sei auch das Berufsbild des Hausarztes in den vergangenen Jahren komplett verändert worden. Während dem man in seiner Praxis bislang sehr viele Dienstleistungen aus einer Hand erhalten habe, gehe das System mittlerweile in jene Richtung, wonach der Hausarzt selbst aus tarifarischen Gründen bald keine Untersuchungen und damit Diagnosen mehr stellen könne und die meisten Patienten für weiterführende Untersuchungen auf die Piste schicken müssen. So würden die Hausärzte über kurz oder lang zu „Zetteli-Döktern“ degradiert, so Schärer. Und so einer wollte er selbst auf keinen Fall sein.
Viele Politiker würden für mehr Wettbewerb einstehen. In Tat und Wahrheit gehe es vielen Politikern jedoch darum, den Vertragszwang abzuschaffen, was zur Folge hätte, dass die Hausärzte den Krankenkassen ausgeliefert wären. Die Kassen könnten dann nämlich bestimmen, mit welchen Aerzten sie zusammenarbeiten wollten und mit welchen nicht. Selbstredend sei, dass das Berufsbild des Hausarztes damit noch unattraktiver würde. Das wäre schade, denn so habe er seinen Beruf nämlich nie erlebt. Im Gegenteil: „Ein Superjob“ sei es gewesen. Der langjährige Kontakt mit seinen Patienten und die Vielfältigkeit an Herausforderungen hätten dazu geführt, dass er seinen Beruf in all den Jahren „immer mehr geliebt“ habe.
Gesucht: Junge Hausärzte
60 Prozent der Seeländer Hausärzte seien gemäss Hans Schärer über 60 Jahre alt. • Gleich erging es vor zwei Jahren dem Seeländer Hausarzt Christian Röthlisberger. Auch er fand keinen Nachfolger für seine Praxis in Grossaffoltern. • Es zeigt sich ein Trend Richtung Gesundheitszentren oder Krankenkassen eigene Praxen.
Artikel von Markus Nobs (Bieler Tagblatt und Berner Zeitung vom 29.06.2012)
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